22.11.2019

„Die wollen, dass behinderte Kinder geboren werden!“

Jedes Jahr motivieren sich Gegendemonstranten, mit Gebrüll und Stör-Aktionen den Marsch für das Leben zu verhindern. Eindrücke von der anderen Seite der Polizeiabsperrung.

Während der Auftaktveranstaltung des Marsches für das Leben am 21.09.2019 in Berlin tummelten sich jenseits von Absperrungen und Polizeiketten meist schwarz gekleidete junge Frauen und Männer. Sie fielen aber nicht nur durch ihre Kleidung auf, sondern insbesondere durch den Lärm, den sie machten. Sie störten den Marsch für das Leben, der gerade vor dem Reichstag mit Reden, Musik und Gebet eröffnet wurde. Auch ich vernahm die Gegendemonstranten aus der Ferne. Ihr Geschrei war unüberhörbar.

Nach einiger Zeit packte mich die Neugierde. Ich wollte verstehen, wer da brüllte und vor allem, was so anstößig an Menschen ist, die JA zum Leben sagen und sich mit Stickern schmücken, die sagen: „Frieden beginnt im Mutterleib!“ Ich wechselte also die Seiten und stand auf einmal unter den Gegendemonstranten. Die Stimmung war

hier auf Krawall gebürstet. Es war laut und zuweilen sehr heftig. Die Vorzeichen waren ganz andere. Hier war die Botschaft nicht PRO LIFE sondern PRO CHOICE.

Was denn die Leute da drüben wollten, fragte ich eine junge Frau, die auf dem Rasen hockte. „Das sind die christlichen Fundamentalisten“, erklärte sie mir. „Die wollen, dass behinderte Kinder geboren werden und außerdem sind sie dagegen, dass Frauen Menschenrechte haben.“ Ich schaute sie an und schwieg. Widerspruch war an dieser

Stelle zwecklos. Um mich herum die brüllende Masse. „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat“

Etwas später, zurück auf der anderen Seite des Zaunes zwischen guten gelaunten und manchmal sogar tanzenden Marschteilnehmern grübelte ich über die Worte der Frau. Ich war bestürzt, wie einfach es ist, Recht ins Unrecht zu verkehren. Eine Meinung, eine Botschaft, eine Parole. Schon sind die, die für das Leben eintreten als Menschenrechtsverletzter stigmatisiert. Doch ich war auch erleichtert, dass diese Frau offensichtlich einen wesentlichen Bestandteil unserer lebensbejahenden Botschaft verstanden hatte.

Wir wollen tatsächlich, dass alle Menschen geboren werden, denn JEDER Mensch hat das Recht auf Leben. Darum sind wir auch dafür, dass behinderte Kinder geboren werden.

Wir wollen nicht nach selbstbestimmten Kriterien unterscheiden und Gräben ziehen zwischen den Menschen. Wir wollen, dass Menschenrechte für ALLE gelten.

Ich nahm mir einen Sticker vom Infostand, klebte ihn auf meine Bluse und folgte schweigend den Menschen auf ihrem Weg durch Berlin. Der Sticker sagte mehr als die Rufe und das schrille Geschrei jenseits der Absperrungen: „Menschenrechte beginnen im Mutterleib!“ (TT)